Meine Tochter war verzweifelt. Sie hatte gelernt und geübt, hatte das ganze Wochenende mit ihrer Freundin Mathe gepaukt und nun das: wir erhielten ein Schreiben der Schule, dass Andrea versetzungsgefährdet sei. In Mathematik stünde sie zwischen 5 und 6.
Betreten sah sie auf den Fußboden, als sie mir berichtete, dass sie irgendwie ein Problem mit der Mathematiklehrerin habe. Die Lehrerin sei stets ausgesucht unfreundlich zu ihr, helfe ihr nicht im Unterricht, nehme sie grundsätzlich dann dran, wenn sie sich nicht gemeldet hätte und ignorierte sie, wenn sie sich meldete.
Ich war mir nicht sicher, ob sich die schwachen Matheleistungen meiner Tochter wirklich damit erklären ließen. Allerdings wusste ich, dass sie intensiv lernte und das Gelernte auch beherrschte. Vor entscheidenden Mathematik-Klausuren konnte sie die Übungsaufgaben zu Hause mühelos lösen.
Deshalb schlug ich ihr vor, mit einem Mentaltraining ihre eigene Einstellung gegenüber der Lehrerin zu verändern. Meine Tochter willigte ein, war aber skeptisch, ob dieses Vorgehen Erfolg haben könne. Schließlich war ja die Lehrerin aus ihrer Sicht die Schuldige an dem Leistungsversagen und mit der würde ich nicht arbeiten.
Andrea stellte sich bildhaft vor, dass die Lehrerin sie bei der nächsten Begegnung freundlich begrüßen solle, sie nur dann drannehmen würde, wenn sie sich meldet und sie im Unterricht freundlich unterstützt.
Die Übungszeit war sehr kurz, von Freitag bis zum darauf folgenden Montag, an dem die nächste Mathematikstunde stattfand. Andrea stellte sich deshalb gleich mehrfach am Tag in einer leichten Entspannung die gewünschten Begegnungen mit ihrer Lehrerin vor.
Am Montagabend begrüßt mich meine Tochter strahlend. „Es war ganz toll heute“, erzählte sie. „Ich war die erste im Klassenraum und die Lehrerin hat mir zugelächelt und mir die Hand gegeben. Zweimal hat sie mir im Unterricht bei Übungsaufgaben geholfen. Und dann hat sie mich zweimal drangenommen, als ich mich gemeldet habe.“
Andrea behielt die Mentalübungen bei und schaffte es, am Ende des Schuljahres in Mathematik die Note 2 auf dem Zeugnis zu erhalten.
Ihrer Lehrerin war das unerklärlich. Statt sich über die Leistungsentwicklung ihrer Schülerin zu freuen, fand sie eine pädagogisch überaus wertvolle Erklärung für die verbesserten Leistungen meiner Tochter: Andrea müsse abgeschrieben haben bei Leistungskontrollen. Diese Erklärung erwies sich freilich als wenig überzeugend, da die Sitznachbarin meiner Tochter in Mathematik nur die Note 4 erreichte.