Psychotricks

„Ich möchte von Ihnen psychologische Tricks erfahren, mit denen ich es schaffe, die Position meines jetzigen Chefs einzunehmen.“

Entschlossen blickte mich Frau S., aus ihren tiefbrauen Augen an. Sie war obwohl noch jung an Jahren bereits in eine bedeutende Managementposition in einem internationalen Konzern gelangt. „Können Sie das?“, hakte sie sogleich nach, als ich einen Moment überlegte.

Der schwarze Schuh an ihrem rechten Fuß wippte ungeduldig auf und ab.

„Es gibt viele Möglichkeiten, einen Weg zu beschreiten, den Sie sich offenbar im Moment vorstellen.“

„Dann bringen Sie mir diese bei“, forderte meine Gesprächspartnerin nachdrücklich und strich energisch mit der rechten Hand über ihre dunkle Anzughose, als wolle sie jeden etwaigen Zweifel wegwischen.

„Gut“, nahm ich ihre Ungeduld auf „lassen Sie uns gleich beginnen. Bevor wir jedoch die Trickkiste öffnen, möchte ich wissen, aus welchem Grund, aus welchem Motiv heraus Sie Ihren Chef von seiner Position verdrängen und diese selbst einnehmen möchten.“ Ich sah, dass Frau S. ihre dezent geschminkten Lippen öffnete, um mir zu antworten.

„Oh nein“, unterbrach ich ihr noch nicht einmal gesprochenes Wort. „ich möchte nicht das Motiv kennen lernen, das Sie mir jetzt gleich sagen wollen. Es liegt ein viel tieferes, viel intensiveres Motiv hinter Ihrem Vorhaben, das wir erkennen müssen, bevor wir uns an die Umsetzung ihrer Pläne machen können.“

Verblüfft zupfte die junge Frau an ihrem dunklen Blazer. „Was soll denn da so tief liegen, dass ich das jetzt nicht sehen kann?“ wunderte sie sich.

Ich schlug ihr vor, dass wir uns gemeinsam auf die Suche nach den verborgenen Motiven machen werden, fragte sie nach den Inhalten ihrer Tätigkeit und den Aufgaben ihres Vorgesetzen, den sie so gerne um seine Position beerben wollte. Mir wurde klar, dass sowohl ihre Tätigkeit als auch die Aufgaben ihres Chefs angefüllt waren mit Termindruck, unangenehmen Auseinandersetzungen, Stress und Überbeanspruchung.

Schließlich vereinbarten wir einen ersten Sitzungstermin.

Eine Woche später erschien Frau S. pünktlich auf die Minute in meinem Büro. Zielstrebig eilte sie in den Besprechungsraum.

Ich glaube, sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung davon, wie heftig sich gleich ihr wirkliches Motiv bemerkbar machen würde.

Nachdem sie mich ungläubig angeschaut hatte, als ich sie bat, sich entspannt auf die Liege zu legen, tat sie, worum ich sie gebeten hatte. Ich wollte ihr den Kontakt zu ihrem Unterbewusstsein ermöglichen, das die notwendige Intuition für wichtige Lebensentscheidungen bereithält. Von dieser Quelle wesentlicher Informationen war Frau S. durch ihr hektisches Leben und ihr Streben nach noch mehr gesellschaftlicher Reputation abgeschnitten.

Zu meiner Überraschung konnte sie sich unter meiner Anleitung rasch und tief entspannen. Bald stand sie im Kontakt mit ihrer Intuition, die ihr zu der Frage nach den wirklichen Motiven ihres Verlangens nach der Position ihres Chefs intensive Bilder als Antwort sandte.

Kaum fünf Minuten nach Beginn der Sitzung begann Frau S., die so hart und zielstrebig war, zu weinen. Nein, es war nicht nur ein Weinen, sondern ein verzweifelten Wimmern, das sich zu einem tiefen Schluchzen steigerte und anhielt.

Als sie nach langem Weinen wieder in der Lage war, zu sprechen, fragte ich sie was sie gesehen hätte. Sie berichtete mir unter Tränen, dass sie sich wie in einem Film erlebt hätte, als sie mit ihrem Hund an der Ostsee spazieren ging. Ich fragte sie, was sie an diesem Erlebnis so berührt hätte. Unter Schluchzen stieß sie hervor: „Der Hund, mein Hund, der hatte mich einfach nur gern, so wie ich bin. Ich musste nichts tun, um von ihm geliebt zu werden, gar nichts. Er hatte mich einfach nur gern.“

Wir schwiegen minutenlang. Frau S. ließ ihren Tränen freien Lauf und auch ich war tief beeindruckt von der klaren Botschaft ihres Unterbewusstseins. Das war ihr Motiv: Frau S. wollte geliebt und angenommen sein. So geliebt und angenommen, wie sie ist, ohne sich dafür aufreiben, verbiegen oder kämpfen zu müssen.

In den darauf folgenden Sitzungen konnten wir herausarbeiten, dass sie das, was sie innerlich so sehnsüchtig suchte, weder in ihrer jetzigen Tätigkeit und schon gar nicht in der Position ihres Chefs finden könnte. Ein Rückblick auf ihr Leben zeigte ihr, dass sie sich ständig auf dem Sprung, entwurzelt und heimatlos fühlte.

Gemeinsam entwickelten wir eine neue Vision von ihrem Leben, dass all das enthalten sollte, was sie sich wünschte. Im Mentaltraining vermittelte sie ihrem Unterbewusstsein Verhaltensprogramme, die sie zur Erfüllung ihrer Wünsche führen konnten.

Zur unserer letzten Sitzung erschien sie in Jeans und Pullover und unterbreitete mir ihren Plan. 
Nachdem sie erkannt hatte, was ihr wirklich wichtig war, stellte sie ihr Leben mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit und Konsequenz auf den Kopf. Sie kündigte in ihrem Unternehmen, suchte eine neue Stelle und zog in eine andere Stadt.

Wenige Wochen nach unserer letzten Sitzung rief Frau S. mich an und erzählte erfreut, dass sie in dieser Stadt eine schöne Wohnung, eine neue berufliche Tätigkeit und endlich einen Freund gefunden hätte, der sie aufrichtig liebte, der sie so annehmen konnte, wie sie war und nichts von ihr erwartete, als sie selbst zu sein.